Erstmanifestation von Typ I - Diabetes bei Schüler

Hier könnt ihr erlebte Einsätze schildern und sie können von uns gemeinsam besprochen werden.

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02.01.2014, 14:51
DER EINSATZ...
Der diensthabende Rettungsassistent eines Berufsschulzentrums wird anlässlich einer Schulsportveranstaltung gerufen. Als Einsatzstichwort erging die Meldung "Schüler kollabiert".

SITUATION VOR ORT:
Bei Eintreffen am Notfallort 40 Sekunden nach Alarmierung liegt ein 19-jähriger, sehr schlanker Schüler ansprechbar in Rückenlage auf dem Hallenboden.

Der Schüler (Hobbysportler) gibt an, sich bereits seit dem frühen Morgen nicht gut zu fühlen. Beim Uni-Hockey/Floorball-Spiel bekam der Schüler plötzlich Brustschmerzen, spielte dennoch weiter und kollabierte nach ca. 10 Minuten Spiel.

Als weitere Symptome treten Dyspnoe (Atemnot), Übelkeit und eine Schmerzausstrahlung in den Oberbauch auf, wobei die Brustschmerzen nicht atemabhängig sind, sondern kontinuierlich vorherrschen. Die Person fühlt sich schwach.

Es wird daraufhin versucht, die Person von einer Flachlagerung in eine Oberkörper-Hochlagerung zu verbringen und ein Notruf mit der Verdachtsdiagnose "Kollabierte Person, Verdacht Akutes Koronarsyndrom unter Belastung" wird durch eine weitere Lehrkraft veranlasst. Die Person toleriert jedoch kein Aufrichten, schließlich kann ein Vakuum-Schienensatz unter den Oberkörper geschoben und so zumindest eine geringe Hochlagerung erreicht werden.

Es folgt eine weitere Anamneseerhebung nach dem S-KAMEL-Schema. Dieses ergibt keine Vorerkrankungen / Medikamenteneinnahmen oder Allergien). Der parallel am Handgelenk gemessene Puls beträgt ca. 200 Schläge / min, obwohl die körperliche Belastung schon einige Minuten zurückliegt. Daher steht eine tachykarde Herzrhythmusstörung als weiterer Versacht im Raum. Es fällt an dieser Stelle erstmals eine schnelle Atmung auf, die zunächst auf die subjektiv empfundene Dyspnoe zurückgeführt wird. Es erfolgt die Anlage eines Pulsoximeters (Nellcor N 65, SpO² 100%) und die Durchführung einer manuellen Blutdruckmessung, die einen Wert von 160 / 100 mmHg ergibt. Weitere Gerätediagnostische Maßnahmen erfolgen zu diesem Zeitpunkt nicht. Auf das Nachholen eines (vorhandenen) EKG-Gerätes wird aufgrund der erwarteten kurzen Zeit bis zum Eintreffen der Rettungsmittel verzichtet, allerdings wird ein AED-Gerät vorbereitet und bei der nach wie vor im Raum stehenden Verdachtsdiagnose ACS Reanimationsbereitschaft hergestellt. Auf eine Sauerstoffinhalation wird bei guter Sättigung leitliniengemäß verzichtet.

Die Person klagt nach wie vor über Brustschmerz und Atemnot und hyperventilliert jetzt erkennbar, Beruhigungsversuche ("Talk down") zeigen keine Wirkung. Unter diesem Umständen trifft ca. 10 Minuten nach Alarmierung ein RTW ein, die örtlich zuständige Leitstelle hatte die Alarmierung eines Notarztes nicht für notwendig erachtet.

Für das behandelnde Rettungsdienstteam steht nach Übergabe und Ableitung eines (unauffälligen) 6-Kanal-EKGs die Hyperventilation im Vordergrund, die mittels Rückatmemmaske zu beheben versucht wird. Allerdings zeigt auch diese Maßnahme keine Wirkung, so dass sich der Rettungsdienst zu einer zügigen Zuführung ins Krankenhaus entschließt. Weitere Maßnahmen werden zumindest vor Ort nicht durchgeführt. Beim Umlagern kollabiert der Patient erneut und macht einen zunehmend abwesenden Eindruck.

WEITERER VERLAUF:
Bei Eintreffen im Krankenhaus wird eine Routine-Blutuntersuchung durchgeführt. Diese zeigt einen massiv erhöhten BZ-Wert. Der Patient wird zur weiteren Abklärung bei Verdacht auf Diabetes-Erstmanifestation stationär aufgenommen und weiterführenden Untersuchungen zugeführt. Eine Bestimmung des Blutzucker-Wertes erfolgte weder durch die Schule noch durch den Rettungsdienst, obwohl diese gerätevorhaltungstechnisch möglich gewesen wäre.

DISKUSSION:
An dieser Stelle weise ich nochmals auf die Wichtigkeit einer Blutzuckermessung auch im präklinischen Bereich hin. Der Rettungsassistent hatte hierauf verzichtet, um nicht durch möglicherweise unnötige invasive Maßnahmen "negativ aufzufallen" (an der Schule wurde ein Konzeptvorschlag zum Aufbau eines SSDs eingereicht, über den zurzeit beschieden wird). Auch wenn hieraus (meist) keine therapeutische Konsequenz für den SSD erfolgt, können ggf. erstmalig auftretene Entgleisungen als solche erkannt und in die Erhebung einer Verdachtsdiagnose einbezogen werden.

Alle Symptome passten sowohl zum ACS als auch zur (erstmalig aufgetretenen) Hyperglykämie.

Gute weiterführende Informationen zur Hyperglykämie erhält man auch hier:
http://www.medizinfo.de/diabetes/krankheitsbild/hyperglykaemie_ketoazidose.shtml

Diabetische Entgleisungen können auch im Bereich von Berufsschulen auftreten (und treten bei uns auch ca. einmal im Jahr auf). Daher sollten Sie stets mit in die Auswahl der Verdachtsdiagnose einbezogen werden. Eine Blutzuckermessung sollte zu den Routinemaßnahmen gehören, sofern das SSD-Personal entsprechend geschult ist.

Edit: a.) Rechtschreibung
b). beim durch die Klinik bestimmten BZ-Wert habe ich jetzt unterschiedliche Werte gehört. Es ist aber in meinen Augen unerheblich, ob der BZ-Wert bei über 600 oder bei über 1000 mg/dl lag. Auf jeden Fall war er massiv erhöht und Ursache für die Beschwerden.
Zuletzt geändert von Hajo Behrendt am 02.01.2014, 19:15, insgesamt 1-mal geändert.
35 Jahre, Im-RTW-beim-Patienten-Sitzer, hauptamtlicher "Zivi"-in-den-Hintern-Treter, ehrenamtl. Löschknecht, Obermufti von einigen SSDs -- im schönsten Bundesland der Welt: Schleswig-Holstein!

02.01.2014, 18:20
Nur zum Verständnis:
Die Brustschmerzen kamen von der reduzierten Durchblutung der Koronarien in der Diastole bei einer 200er Frequenz? Oder übersehe ich gerade eine andere tolle Erklärung dafür, die mehr mit dem BZ zu tun hat?
Rettungsassistent in München, 23 Jahre

02.01.2014, 18:37
Reizung des Bauchfells. Dies führt zu Bauchschmerzen, die ggf. ausstrahlen können. Das wäre zumindest meine Erklärung.

Ich habe schon häufiger erlebt, dass Patienten mit einer massiven Überzuckerung Bauchschmerzen hatten. Ggf. wurden diese hier als Brustschmerzen fehlgedeutet.

Aber dein Lösungsansatz klingt ja auch plausibel..
Zuletzt geändert von Hajo Behrendt am 02.01.2014, 18:39, insgesamt 1-mal geändert.
35 Jahre, Im-RTW-beim-Patienten-Sitzer, hauptamtlicher "Zivi"-in-den-Hintern-Treter, ehrenamtl. Löschknecht, Obermufti von einigen SSDs -- im schönsten Bundesland der Welt: Schleswig-Holstein!

02.01.2014, 18:53
Aber hier mal ein Beispiel dafür, dass man eben auch mit der Verdachtsdiagnose "Hyperventilation" kritisch sein muss.

Nehmen wir einmal an, dass der übermittelte Zuckerwert stimmt und dass der Patient eine diabetische Ketoazidose hatte. Dann hätte er sich selbst mit der Hyperventilation das Leben gerettet, weil er gegen seine Azidose angeatmet hat.

Eine Verschärfung der Rückatmung oder gar eine medikamentöse Intervention hätte ihn vermutlich umgebracht.

Ein ACS würde ich für extrem unwahrscheinlich halten. Die Brustschmerzen sind durch die Tachycardie allein schon hinreichend erklärt. Der Diabetes an sich braucht schon eine gewisse Zeit um die Gefäße zu schädigen.
Es ist Dein Recht, Waffen abzulehnen. Es ist Deine Freiheit, nicht an Gott zu glauben. Aber wenn jemand in Dein Haus einbricht, sind die ersten beiden Dinge, die Du tun wirst: Jemanden mit einer Waffe rufen und beten, dass er rechtzeitig da ist.

02.01.2014, 23:20
Bei Atemnot Sauerstoff vorzuenthalten ist nicht Leitliniengerecht.


Geschadet hätte es auch bei der "echten" Hyperventilation nicht (geholfen auch nicht).
" Die jungen Leute von heute sind wesentlich angenehmer als in den 60er, 70er und 80er Jahren. Sie sind toleranter und respektvoller, auch älteren Leuten gegenüber. "
- Heino

03.01.2014, 11:40
Geschadet hätte es auch bei der "echten" Hyperventilation nicht (geholfen auch nicht).

Zur Namensgebung - das hier ist eine echte Hyperventilation - eben mit dem Sinn, den Kohlendioxidpartialdruck zu verringern, so mithilfe einer respiratorischen Alkalose die vorhandene metabolische Azidose, die durch den Anfall saurer Ketonkörper entsteht, zu kompensieren.

Das was landläufig kurz mit Hyperventilation benannt wird, ist das Hyperventilationssyndrom!

Reizung des Bauchfells. Dies führt zu Bauchschmerzen, die ggf. ausstrahlen können. Das wäre zumindest meine Erklärung.

Nennt sich Pseudoperitonitis diabetica - der genaue Mechanismus zur Schmerzentstehung ist, soweit ich weiß, nicht richtig bekannt

03.01.2014, 16:12
Original von Markus
Geschadet hätte es auch bei der "echten" Hyperventilation nicht (geholfen auch nicht).


Das was landläufig kurz mit Hyperventilation benannt wird, ist das Hyperventilationssyndrom!


Das Hyperventilationssyndrom ist doch aber eine Sammlung aus Symptomen die entstehen bei der Hyperventilation. Diese Symptome entstehen ja wegen der rel. hypocalciäme in Folge der Alkalose.

Ganz anders beim tachypnoischen Patienten bei Azidose. Dieser hat keine der Symptome, außer dem schnellen Atmen. In meiner Welt wäre das also keine Hyperventilation, denn keine der Symptome außer dem schnellen Atmen bestehen.
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- Heino

03.01.2014, 16:25
Ganz anders beim tachypnoischen Patienten bei Azidose. Dieser hat keine der Symptome, außer dem schnellen Atmen. In meiner Welt wäre das also keine Hyperventilation, denn keine der Symptome außer dem schnellen Atmen bestehen


Unterschied zwischen Tachypnoe und Hyperventilation ist die Veränderung des CO2-Partialdrucks.

Tachypnoe ist eine beschleunigte Atmung - z.B. beim Sport, Fieber, Stoffwechselbelastung - die jedoch, aufgrund des erhöhten CO²-Anfalls in diesen Situationen angepasst ist.

Dagegen beschreibt Hyperventilation, dass es zu CO²-Partialdruckveränderungen und damit Verschiebungen im pH-Wert kommt.
Durch weitere Beschreibung wird die hyperventilation weiter definiert, beispielsweise therapeutische Hyperventilation (bewusste "Über-Beatmung", um den Hirndruck zu senken), kompensatorische Hyperventilation (wie in diesem beschriebenen Fall - um durch die auftretende resp. Alkalose eine metabolische Azidose auszugleichen), oder das Hyperventilationssyndrom (als eigenständiger symptomenkomplex)

03.01.2014, 16:38

Unterschied zwischen Tachypnoe und Hyperventilation ist die Veränderung des CO2-Partialdrucks.

Tachypnoe ist eine beschleunigte Atmung - z.B. beim Sport, Fieber, Stoffwechselbelastung - die jedoch, aufgrund des erhöhten CO²-Anfalls in diesen Situationen angepasst ist.

Dagegen beschreibt Hyperventilation, dass es zu CO²-Partialdruckveränderungen und damit Verschiebungen im pH-Wert kommt.



Ein Sportler mit erhöhtem CO2 aber auch einer (beginnenden) Laktazidose ist tachypnoisch, er atmet schnell um den BlutPH konstant zu halten.

Ein DB Typ I Patient entwickelt eine Azidose und atmet schnell um den Blut PH Wert konstant zu halten (versucht es).

Das ist für mich beides die klassische Tachypnoe, nicht die Hyperventilation. Ganz anders als die Stress-Induzierte Tachypnoe mit nachfolgender Alkalose (Hyperventilation, und wenn symptomatisch dann Hyperventilationssyndrom), oder die kontrollierte Hyperventilation zum erniedrigen des CO2.

Reden wir an einander vorbei oder ist bei einem von uns n Denkfehler?

Oder gehts dir bei der Definition von Hyperventilation ausschließlich um den CO2 Partialdruck? Und immer wenn dieser gesenkt wird, isses eine Hyperventilation?
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- Heino

03.01.2014, 16:57
Oder gehts dir bei der Definition von Hyperventilation ausschließlich um den CO2 Partialdruck? Und immer wenn dieser gesenkt wird, isses eine Hyperventilation?

Ja, genau - so kenne ich es, findet sich so z.B. auch im Roche Lexikon medizin (da online vorhanden - http://www.tk.de/rochelexikon/ - quasi die kostenlose Variante zum Pschyrembel):

Hyper|ventilation

über den Bedarf hinaus gesteigerte Lungenbelüftung, charakterisiert durch Senkung des CO2-Partialdrucks in den Alveolen u. im arteriellen Blut unter den Normalwert von 40 mmHg

03.01.2014, 17:01
Sag das doch gleich :P


Danke für den Link, ich hab die Definition anders im Kopf, aber kann das nicht begründen... Werde mal suchen gehen.

Sauerstoff hätte jedenfalls bei keinem unserer Szenerien geschadet. :=)
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05.01.2014, 12:13
Ist doch interessant, dass selbst beim gefühlt häufigsten Krankheitsbild hier noch so viele Frage offen bleiben. ;)

Übrigens finde ich es auch vom Rettungsdienst gewagt, hier bei einer Tachypnoe und subjektiven Atemnot von einem Hyperventilationssyndrom auszugehen, ohne dass hierfür irgendwelche Symptome wie Kribbelparästhesien vorlagen. Jemand der respiratorisch insuffizient ist, zeichnet sich eben auch durch eine beschleunigte Atmung aus.

Genau das sollte man hier immer und immer wieder als Take-Home-Message verbreiten: Nicht jeder, der schnell atmet, hyperventiliert - es gibt auch Menschen bei denen die schnelle Atmung Ausdruck eines tatsächlichen Bedarfs ist.

Der letzte Patient, der mir als "hyperventilierend" vorgestellt wurde, hatte dann übrigens einen STEMI. ;)
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