Hallo zusammen!
Ich ignoriere jetzt einmal explizit das Thema mit Ost-West, nachdem es ja nicht zum eigentlichen Forenthema passt.
Für mich persönlich ist es wirklich erschreckend, dass sogar schon Schulsanitätsdienste darüber nachdenken, was im Falle eines gewaltbereiten Patienten zu tun ist. Ich bin zwar auch 4 Jahre lang an einem Gymnasium in einem sozialen Brennpunkt mit außerordentlich hohem Anteil von Migranten Schulsanitäter gewesen und habe auch des öfteren die Kampfspuren versorgen dürfen, aber dass man als Schulsanitäter körperlich angegriffen wird, ist mir bis dato noch nicht bekannt gewesen.
Aber selbst im Schulsanitätsdienst würde ich, genauso wie im Sanitätsdienst und Rettungsdienst auch, nach dem abertausende Male gepredigtem Schema F handeln: Rückzug und Grün-Weiß anrücken lassen. Selbst jetzt als 21-jähriger mit 5 Jahren Erfahrung im Sanitätsdienst und 3 Jahren Erfahrung im Rettungsdienst verfahre ich nach wie vor nach diesem Schema. Eine Bewaffnung, mit welchen Mitteln auch immer, lehne ich wehement ab, denn wir sind nicht dazu da, um Ordnung zu schaffen, dafür gibt es die Polizei. Wir sind der Rettungsdienst, wir sind da, um Leben zu retten und nichts anderes. Wir sind dem Himmel sei dank auch nicht in einem Krisen- oder gar Kriegsgebiet wie Afghanistan, wo wir unserer Arbeit nur unter schwerer Panzerung und Bewaffnung nachkommen können. Nichts desto trotz habe ich, dank einiger sehr guter Kontakte in die Führungsebene unserer ortsansässigen Polizei, gegen ein paar Flaschen ungarischem Rotwein an einem Deeskalationstraining und einem Grundkurs in Selbstverteidigung und Entwaffnung teilnehmen dürfen und bin für dieses Training unglaublich dankbar, denn man lernt dort, wie man in einer Akutsituation zu reagieren hat und in Sekundenbruchteilen Möglichkeiten und/oder Situationen zu erkennen, in denen man den Gegner schnell, sicher und effektiv entwaffnen kann.
In meiner Hilfsorganisation haben sich vergangenes Jahr etliche Kollegen entschlossen, sich auf eigene Kosten Stichschutzwesten zuzulegen (Stückpreis 100€). Anfangs waren es rund 40 Kollegen, die Zahl dürfte sich aber mittlerweile verdoppelt haben. Auch das finde ich persönlich mehr als nur übertrieben, denn das verleitet meiner Meinung nach nur zu mehr Risikobereitschaft, kann im Zweifelsfall aber nur einen mäßig bis schwachen Schutz bieten. Vor allem den Kopf kann so eine Weste nicht schützen, was im Falle eines körperlichen Angriffs das beliebteste und effektivste Ziel ist. Mein Fazit hierzu: schönes Placebo für's Gehirn ohne nennenswerter Wirkung.
In meiner Dienstzeit wurde ich leider schon sehr oft mit gewaltbereiten und gewalttätigen Patienten konfrontiert, in 75% der Fälle war der Alkohol der Auslöser. Bislang konnte ich durch sicheres Auftreten und rechtzeitigem Rückzug fast immer das gewünschte Ziel erreichen, dass ich, vorsichtig ausgedrückt, meinen Allerwertesten aus der Situation rette und die Polizei anrücken lasse. Ich zitiere hier nur allzu gerne einen Spruch von einem Einsatzleiter bei einem Sanitätsdienst auf einem namhaften Volksfest:
Wenn da jemand anfängt zu randalieren oder gar die große Klopperei losgeht, habt ihr euch gefälligst zurückzuziehen und euren A*sch zu retten. Grün-Weiß freut sich auf die Arbeit, die solln da rein und sich mit denen rumschlagen und für Ordnung sorgen. Alles, was danach steht, nehmen die mit, alles was liegt, wir.
Exakt zweimal war ich in Situationen verwickelt, in denen Waffen im Spiel waren und in denen ein Rückzug kontraproduktiv bzw. nicht möglich gewesen wäre. Das erste Mal hat unser Patient ein Butterfly-Messer gezückt und uns damit bedroht. Hier hat mir der Zufall einen großen Dienst erwiesen, denn der Patient war bekannter Epileptiker und ich hatte vor wenigen Tagen von einem Kollegen eine Taschenlampe zu Testzwecken bekommen, die eine Stroboskop-Blitz-Funktion hat. Diesen Stroboskop habe ich ihm direkt in die Augen brennen lassen, der Patient ist nach kürzester Zeit krampfend zu Boden gesunken und wir konnten in Ruhe weiterarbeiten, wenn auch mit einer gewissen Portion Mehraufwand. Zu meiner eigenen Sicherheit habe ich da trotzdem die Polizei anfahren und den Transport begleiten lassen, ich wollte es nicht darauf ankommen lassen, dass wir nochmals, womöglich sogar auf engstem Raum im RTW, angegriffen werden, wenn der Patient aus der Nachschlafphase erwacht. Es ist natürlich erschreckend, wenn man einen Patienten bewusst so stark "verletzen" muss, damit man selbst heil aus der Sache rauskommt, in dieser Situation habe ich aber leider keinen anderen Ausweg gesehen.
Der zweite Extremfall war vor einem halben Jahr auf einer KTW-Schicht, wir wurden zum Notfalleinsatz in DIE Rotlichtmeile unserer Stadt geschickt, gemeldet war eine geschlossene Fraktur. Wir wurden schon am Eingang des Freudenhauses von einem Herren in Edelanzug, Prada-Schuhen und mit Gold-Rolex empfangen, offensichtlich der "Chef" des "Unternehmens". Wir wurden direkt in ein Zimmer mit großem Bett geführt, in der Ecke fanden wir zusammengekauert eine weinende junge Frau, keine 20 Jahre alt. Ihre Kleidung war blutüberströmt, sie war von Hämatomen und Kratzwunden übersät, Handabdrücke in Gesicht und auf den Armen, die Nase auf ersten Blick frakturiert und blutend und ein Unterarm mit einem Gelenk versehen, wo keines hingehört. Auf die Frage, was passiert sei, bekamen wir die Antwort "die Treppe runtergefallen", die typische Ausrede. Ich habe es förmlich gespürt, wie der "Chef" hinter mir extrem nervös wurde und habe deswegen meinen Mund gehalten. Mein Fahrer hat das offensichtlich nicht gespürt und die Dame gezielt auf den Handabdruck in ihrem Gesicht angesprochen. El Cheffe hat sofort zurückgemault und uns befohlen, ihr einen Gips zu verpassen, danach sollen wir nach Hause verschwinden. Mein Kollege hat einen unauffälligen Stoß von mir bekommen, der ihm gesagt hat, dass er Sendepause hat und ich habe dem "Chef" klargemacht, dass wir erst einen Notarzt nachfordern müssen, weil wir zur Reponierung der Fraktur Schmerzmittel verabreichen müssen, die nur ein Arzt dabei hat. Daraufhin hat er sofort eine 9mm gezogen und mir diese an den Bauch gedrückt mit dem Kommentar "Du machst, was ich dir sage oder ich mach' dich kalt!". Im nachhinein bin ich über mich selbst erstaunt, dass ich in diesem Moment unglaublich ruhig geblieben bin und mit glasklarem Verstand gehandelt habe. Ich habe ihm gesagt, dass ich das machen werde, was er mir befiehlt, worauf er die Waffe leicht sinken lassen hat. Die Gunst der Situation habe ich sofort genutzt und mein Gegenüber mit Überraschungsmoment so entwaffnet und überwältigt, wie ich es zuvor hunderte Male im oben genannten Kurs geübt hatte. Eine ganze Rolle Leukosilk hat als Fesslunsmittel herhalten müssen, der Täter hat unterdessen angefangen, mich bis aufs äußerste zu verfluchen. Mein Kollege hatte sofort nach der Entwaffnung sein Handy gezückt und die 110 gewählt, es sind keine zwei Minuten vergangen, schon hatten wir 6 Mann in Grün im Zimmer stehen, die den Täter mitnahmen. Das ganze, was danach los war, will ich euch ersparen, weil es recht uninteressant ist und ich euch nicht bis zum bitteren Ende zutexten will.
Fakt ist für mich jedenfalls, dass keine Waffe, und sei sie noch so frei erwerbbar, in den Händen eines Sanitäters etwas zu suchen hat,
vor allem nicht in denen eines Schulsanitäters!!! Deeskalierend und sicher auftreten und rechtzeitug zurückziehen, damit kann man 98% aller Problemsituationen sicher bewältigen. Für die restlichen 2%, die Extremsituationen, gibt es leider kein Patentrezept, hier muss man wirklich besonnen reagieren und in jeder Situation anders handeln. Was dann passiert, kann wirklich niemand sagen, vor allem nicht, ob man da heil aus der Sache rauskommt. Ich weiß, dass der Tag X, besser gesagt der Einsatz X kommen wird, der für mich nicht so einfach zu bewältigen sein wird wie die anderen beiden Einsätze und ich selbst zum Opfer werde. Das ist aber, so bitter es klingt, das Berufsrisiko, dessen sich ein jeder Sanitäter bewusst sein und damit umgehen können muss.